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Ausbildung in der Wendezeit

Jan 0
geschätzte Lesedauer: 5 Minuten

In den sozialen Medien lese ich immer mal Statements, wenn es um den Osten geht. Da gibt es flapsige Kommentare, viel Wut, Enttäuschung und auch Verbitterung. Deswegen dachte ich mir, dass es höchste Zeit ist, mal einen Braindump von der Wendezeit zu machen.

Als 1989 die Wende kam war ich 15 Jahre jung. Ich war in der 10. Klasse der Polytechnischen Oberschule, d.h. im Abschlussjahr. Am 8. November 1989 (!!!) bekam ich meinen Vertrag zur Ausbildung als Facharbeiter für Datenverarbeitung mit Spezialisierung „Bedienung von EDVA“. Auf Deutsch soll das heißen, dass ich Operator im Rechenzentrum an einem Großrechner werden sollte. Im September 1990 sollte die Ausbildung beginnen.

Es war eigentlich unglaublich, wie viel sich in einem Jahr ändern sollte. Deswegen sind auch nur noch einzelne Fetzen von Erinnerungen da. Kaum war die Wende bekannt, standen relativ schnell die 0,33l Coca Cola-Dosen in der Kaufhalle. Anfangs kosteten die Exemplare einen horrenden Preis so zwischen 5 und 10 Ost-Mark. Bei einem monatlichen Taschengeld von 10 Mark absolut indiskutabel. Aber die blieben auch lange so teuer. Ich weiß noch, dass ich meine Großeltern mir mal 10 DM schenkten und ich mir davon 5 Dosen „gönnte“, d.h. 2 DM das Stück. Und nein, nicht im Restaurant, im normalen Einzelhandel.

Zurück zur Ausbildung. Ich fing also im September an. Aber als was? Ich hatte keine Ahnung. Ich kann mich erinnern, dass ich ziemlich nervös war, weil aus einem geregelten Leben – Ausbildung, Beruf etc. plötzlich nichts wurde. Oktober 1990 wurde klar, dass ich Datenverarbeitungskaufmann werden sollte. Gefragt hatte mich da keiner, ob ich irgendwas mit Buchhaltung machen wollte. Und informieren – keine Chance. Bis ich meinen Arbeitsvertrag in den Händen halten sollte, dauerte es noch bis April 1991.

Und genau so lief auch die theoretische Ausbildung ab. Leute, die seit Jahrzehnten Facharbeiter ausgebildet hatten, bekamen „neue“ Lehrbücher in die Hand gedrückt. Die spiegelten aber inhaltlich Wissen aus den 1980ern wider. Mit Festplatten von maximal 10 Megabyte (richtig gelesen!) und 8 Zoll Disketten als Standard. Wir saßen mit Leuten in der Schule, die Abitur gemacht hatten, denn eigentlich erforderte der Beruf des Datenverarbeitungskaufmanns ein Abitur. Kurz gesagt, bekamen wir Wissen vermittelt, was nicht dem Stand der Zeit entsprach. Nachfragen brauchten wir auch nicht, denn der Lehrplan sah das nun mal so vor.

Die Firma, wo ich Lehre machte, stellte Präzisionswerkzeugmaschinen her. Von kleinen Maschinen bis zu großen Fertigungsstraßen im Millionenbereich. Meine Ausbildung sah vor, dass ich zwei Wochen Berufsschule hatte und zwei Wochen im Unternehmen arbeiten sollte. Die ersten Wochen war ich noch im Datenverarbeitungszentrum und durfte dort mithelfen. Magnetbänder heraussuchen für Stapelläufe, einlegen, wenn der Rechner ein neues Band wollte und gelegentlich auch mal ein Programm starten. Aber das Rechenzentrum wurde als eine der ersten Abteilungen eingestampft.

In Folge dessen wurde ich immer für eine Woche in ein Ausbildungsunternehmen geschickt, die praktisch mit uns programmieren übten. Das war eine gute Sache, denn ungefähr die Hälfte der Leute aus der Berufsschule waren dann auch dort. Das konnten sich aber nur die Unternehmen leisten, bei denen es gut lief, denn das Unternehmen ließ sich die Ausbildung ordentlich was kosten. So haben wir es von den anderen gehört, die ihre praktische Ausbildung im Unternehmen machten.

Das hieß für mich, dass ich nur eine Woche bzw. in den Ferien im Ausbildungsbetrieb war. Aber mittlerweile wurde ein Großteil der Mitarbeiter auf Kurzarbeit gesetzt. Im Klartext war es so, dass es sehr häufig vorkam, dass ich nachmittags allein in einem riesigen Büro saß, weil die Angestellten nicht arbeiten durften oder mittags heim gingen. Und so ging es auch den Leuten, welche die kompletten zwei Wochen im Betrieb sein mussten. Die saßen da und warteten auf den Feierabend, weil kein Ausbilder da war. Zum Glück gab es nur sehr wenige, wo das Unternehmen noch während der Lehre komplett pleite ging.

Mein Ausbildungsbetrieb begann in der Zwischenzeit zu zerbröckeln. Original arbeiteten doch zum Zeitpunkt der Wende ca. 2.000 Menschen. Die Firma wurde in kleinere Teile zerlegt. Eine Firma für die Ausbildung, eine Firma, die als Nachfolge für den bisherigen VEB gelten sollte und die Abwicklungsfirma. Ursprünglich bestand die Firma aus einem großen Verwaltungsgebäude und mehreren Werkhallen, die am Ende einer Plattenbausiedlung lagen. So ziemlich alle wohnten dort. Mit Ausnahme des Ausbildungsbetriebs, der lag am anderen Ende der Stadt.

Mein Vater war der Abteilungsleiter der Buchhaltung und musste plötzlich Leute entlassen. Leute mit denen er viele Jahre lang zusammengearbeitet hatte, mit denen er sich super verstand. Und nun musste er entscheiden, wer bleiben sollte und wer gehen musste. Wo vorher auf Augenhöhe gearbeitet wurde, wurden Hierarchien durchgepresst. Missgunst entstand und Freundschaften zerbrachen.

Früher war es üblich, dass die Leute, die einen Ausbildungsvertrag hatten, auch übernommen wurden und somit sofort voll ins Berufsleben integriert waren, weil sie in der Lehre schon Leute und Abläufe kannten. Nach der Zerschlagung des Unternehmens kam die eine Hälfte der Auszubildenden in die Ausbildungsfirma und die andere Hälfte wurde der Abwicklungsfirma zugeordnet. Für die hieß es ab sofort quer durch die Stadt zu fahren. Ach ja, die fangen übrigens um 6.30 Uhr an. Bei ca. 300DM Ausbildungsgeld ein Auto? Nein, früh um 5 Uhr ÖPNV!

Der nächste Hammer kam kurz vor dem Abschluss. Für die Auszubildenden des Ausbildungsbetrieb hieß es – euer Ausbildungsvertrag endet mit der mündlichen Prüfung. Wenn ihr bestanden habt, ist das euer letzter Arbeitstag, danach seid ihr arbeitslos. Und das war keine Entscheidung, die ein Jahr vorher gefällt wurde, sondern die entstand so ein bis zwei Monate vor dem Ende unserer Lehre.

Also entstand auch Missgunst zwischen den Auszubildenden. Denn die Azubis aus der Abwicklungsfirma durften bleiben, denn die Abwicklungsfirma musste laut Tarifvertrag die Azubis noch ein halbes Jahr übernehmen. Somit hatten die dann wenigstens noch ein soziales Netz, damit sie sich einen Job suchen konnten.

Durch die Umstellung auf die DM und der „Neubewertung“ der Wirtschaftlichkeit wurden solche Unternehmen ein leichtes Opfer für Spekulanten. Die Konsequenzen kann man sich leicht ausrechnen. Eine Firma ohne Mitarbeiter kann keine Aufträge mehr bearbeiten. Und so begann die Todesspirale. Aus 2.000 Menschen, die dort arbeiteten, wurden mit jeder spekulativen Übernahme gegen Ende der 1990er ca. 150 Leute. Irgendwann konnte die Firma keine Maschinen mehr bauen, weil die Leute fehlten und war auf Auftragsarbeiten angewiesen, die sie mit den Maschinen, die sie früher gebaut haben, bearbeiten konnten.

Im Sommer 1993 saß ich im ehemaligen Pförtnerbüro an einem DDR-PC und sollte ein Programm schreiben, was die Verdienste der Mitarbeiter für die Sozialversicherung ausdrucken sollte, die dort mal angestellt waren. Das Programm war schnell fertig. Der Nadeldrucker hinter mir druckte Tage lang, von früh bis spät. Und wie das bei Nadeldruckern so üblich war, konnte man nicht mal schnell rausgehen. Farbband wechseln, Papier verheddert sich, Papier ist alle. Regelmäßig bin ich da mit Kopfschmerzen raus.

Im Januar 1994 war dann auch für mich Schluss. Ich hatte viele Vorstellungsgespräche, die alle nach dem gleichen Schema verliefen. Datenverarbeitungskaufmann – was ist denn das / was macht man denn da? Zumindest lief der PC-Verkauf gut, weswegen ich mich mit kleinen Jobs als Computerschrauber über Wasser hielt.

Mein Vater blieb noch lange in dem Unternehmen. Zumindest so lange, als er Ende der 1990er vom Geschäftsführer gezwungen wurde, die Bilanz zu fälschen. Er wollte sich weigern, aber der Vorschlag war: Sie machen es oder sie gehen. Natürlich fiel es auf und ein Bauernopfer musste gefunden werden. Er durfte gehen.

Fazit: Wer wissen möchte, warum ich ziemlich schnell Puls bekomme, wenn es um Entscheidungen der Wirtschaftlichkeit geht, wenn um finanz-getriebene Spekulationen geht und um Fragen der sozialen Gerechtigkeit, der sollte hier alle möglichen Ursachen finden. Und ich habe hier noch nicht mal den Wohnungsmarkt beleuchtet, wo es Leuten plötzlich einfiel, dass sie Häuser im Osten hatten, die sie plötzlich wieder haben wollten.

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